Alltagsethik

Von ethischen Werten zu ethischem Handeln (Teil 1): Der Prozess der Gedankenschulung

Für die meisten von uns sind ethische Werte etwas Selbstverständliches: Jeder würde zustimmen, dass es positiv ist, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes, wenn man sich rücksichtsvoll und tolerant verhält, wenn man ausgleichend und vermittelnd wirkt, wenn man echtes Interesse am Gegenüber zeigt und sich um die sorgt, die einem nahestehen oder die bedürftig sind. Aber jeder von uns kennt auch die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Wir haben uns fest vorgenommen, unseren Partner in der Hausarbeit zu unterstützen, aber dann ist man im Beruf so eingespannt oder es findet dieses wichtige Fußballspiel statt… Von der Einsicht, dass ethisches Handeln gut und notwendig ist, zur konkreten Umsetzung ist es oft ein steiniger Weg – das haben viele Wissenschaftler thematisiert, unter anderem der Philosoph Otfried Höffe. Wenn wir uns aber ansehen, welche materiellen Fähigkeiten wir im Laufe unseres Lebens erlernt haben (Berufsausbildung, Sprachen, Sportarten), müssen wir zum Schluss kommen, dass wir diese auch nicht ohne Schweiß (und manchmal sogar Tränen) erworben haben. Möglicherweise wurde uns das Talent geschenkt, aber dieses Talent entwickelt haben wir selbst. Das zeigt uns, dass wir sehr wohl in der Lage sind, uns selbst zu beeinflussen und Anstrengungen auf uns zu nehmen, wenn wir ein bestimmtes Ziel verfolgen. Im selben Maße sollte es also möglich sein, uns auch in Hinblick auf die Entwicklung unserer inneren Persönlichkeit zu beeinflussen.

Stufentheorie moralischen Urteilens

Unser ethisches oder moralisches Bewusstsein ist nichts Statisches – das hat der Psychologe Lawrence Kohlberg in seiner ‚Stufentheorie moralischen Verhaltens‘ aufgezeigt. [1] Er hält fest, dass es sechs Entwicklungsstufen des moralischen Bewusstseins beim Menschen gibt, von (1) ‚Orientierung an Strafe und Gehorsam‘ bis hin zu (6) ‚Orientierung am universellen ethischen Prinzip‘ (siehe Abbildung). Von Stufe zu Stufe reift der Mensch, wobei diese Reifung unabhängig vom biologischen Alter ist – seiner Aussage nach erreichen überhaupt nur 5% die letzte und höchste Stufe. Reifung bedeutet dabei, Fortschritte vor allem in folgenden Bereichen zu machen: 1) Abkehr von Egozentrik und Hinwendung zum Anderen sowie 2) konsequentes Hinterfragen und Begründen von moralischen Normen, die dem eigenen Handeln zugrundeliegen.

 

Prozess der Gedankenschulung

Daraus resultiert die Frage, wie man sein ethisch-moralisches Bewusstsein (weiter)entwickeln kann? Gibt es eine Form der Selbstbeeinflussung, die uns erlaubt, innere Qualitäten (Tugenden) zu entwickeln? Kohlberg selbst spricht davon, dass für den Eintritt in die höheren Stufen ‚Selbstdistanzierung‘ und ‚Urteilsfähigkeit‘ notwendig sei. Dieser Gedanke wird auch in den Arbeiten des Wissenschaftlers Bahram Elahi [2] vertieft. Die Methode, die er zur ‚ethischen Vervollkommnung‘ empfiehlt, nennt er ‚Gedankenschulung‘. Die Qualität unserer Gedankenschulung, so beschreibt er in seinem Buch Path of Perfection [3], entspricht dem Grad an spiritueller Erziehung, die ein Mensch auf Erden durchlaufen hat. Die Gedankenschulung sei „eine tiefgehende innere Arbeit am Selbst“, die es uns ermöglicht, „einerseits aktiv in der Gesellschaft zu leben und vielfachen Versuchungen ausgesetzt zu sein, andererseits mithilfe unserer Willenskraft und der Unterstützung durch die Quelle die Triebkräfte des Herrschsüchtigen Selbst schrittweise zu meistern.“ (Seite 200) [4] In aktuellen Forschungsbeiträgen ist davon die Rede, dass diese Form der ‚Gewissenserforschung‘ vermutlich sogar unseren „epigenetischen Code“ modifizieren kann – mit Gewissenserforschung wird von Johannes  Huber, der Arzt und Theologe ist, die Tatsache bezeichnet, dass ein Mensch im Nachhinein über eine Entscheidung „reflektieren, Buch führen, sie überlegen und sie beurteilen“ kann. Dadurch könnten wir „bei der nächsten Handlung selbst dann, wenn bereits im Vorwissen die Entscheidung gefällt wird, durch unsere Gewissenserforschung epigenetisch in eine neue, in eine korrigierte Bahn hineinmanövrieren.“ [5]

 

Schrittweise gegen negative Eigenschaften vorgehen

Wer nun korrekte ethische Prinzipien in die Praxis umsetzt, der schult sein Denken und beeinflusst sein Handeln – und verändert damit vermutlich sogar seinen genetischen Code, so dass die erlernten Verhaltensweisen dauerhaft und stabil sind. Dieser Prozess erstreckt sich laut Bahram Elahi über mehrere Etappen (Medicine of the Soul, Seite 53) [6]:

 

  1. Aufmerksamkeitsphase: Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Ideen unserem Denken (ähnlich wie die Nahrung dem Körper) zugeführt werden. Unsere Aufmerksamkeit übernimmt dabei die Aufgabe, auszuwählen bzw. zu entscheiden, was wir aufnehmen wollen.
  2. Überlegungsphase: Mit dem Eintritt in die Überlegungsphase wird damit begonnen, die aufgenommene Idee mithilfe des Verstandes aufzugliedern und zu analysieren.
  3. Speicherphase: Hat man eine Idee oder ein Prinzip für richtig befunden, über mögliche Wege der Umsetzung nachgedacht und den Entschluss gefasst, dieses Prinzip anzuwenden, tritt man in die Speicherphase ein.
  4. Assimilationsphase: In dieser letzten Phase wird das betreffende ethische Prinzip von den Charaktereinheiten des spirituellen Organismus assimiliert. Indem man es wiederholt in die Praxis umsetzt, verwandelt es sich schließlich in eine göttliche Tugend.

Das klingt zunächst ein wenig theoretisch – doch wenn man ein konkretes Beispiel nimmt, wird es anschaulicher: Jemand hat erkannt, dass er leicht wütend wird. Ihm wird klar, dass Ausgeglichenheit und Friedfertigkeit wünschenswerte Eigenschaften sind (Phase 1 der Aufmerksamkeit). Er fängt an, sich mit dem Thema Aggression zu beschäftigen und stellt fest, dass sie sich negativ auf seine Umwelt auswirkt. Ein Denkprozess kommt in Gang und damit verbunden sind Fragen wie: Welche Wirkungen hat es auf meine Mitmenschen, wenn ich wütend werde? Was löst die aggressiven Tendenzen in mir aus? Wie nehme ich selbst andere Menschen wahr, wenn sie wütend werden? Die Person beobachtet sich nun genauer als vorher und beginnt, in einem schrittweisen Prozess, sich selbst besser kennenzulernen (Phase 2 der Überlegung). Möglicherweise bezieht sie in ihre Analyse auch andere Menschen mit ein, die ihr nahestehen, oder die sie gut kennen – um durch sie Hinweise über die ‚blinden Flecken‘ in der eigenen Persönlichkeit zu bekommen. So gewinnt sie allmählich ein realistisches Bild von sich selbst. Entscheidend für die Veränderung ist nun die dritte Phase, die Speicherphase: Der Betreffende fällt den festen Entschluss, gegen diesen negativen Charakterzug anzukämpfen. Von da an wird jede Situation, die in ihm den Ärger hochsteigen lässt, zu einer Prüfung. Nun ist es wenig wahrscheinlich, dass er schon vom nächsten Tag an all diese Tests besteht und plötzlich zu einem ausgeglichenen Menschen wird. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er zunächst in eine intensive Analyse-Arbeit einsteigt: Wann und wem gegenüber werde ich wütend? Was sind die Auslöser? Gibt es tiefere Ursachen? Diese (positive) Rückkoppelung ist Teil der Assimilationsphase, in der die betreffende Charaktereigenschaft nach und nach verinnerlicht wird – bis sie letztlich zur zweiten Natur, zur Tugend, wird.

(Selbst-)Erkenntnis im Handeln

Die Fragen, mit denen der Betreffende im Laufe dieser inneren Arbeit konfrontiert wird, führen ihn möglicherweise zu einer weiteren bedeutenden Erkenntnis: Dass Emotionen wie Ungeduld, Ärger und Wut Symptome eines tieferliegenden Ungleichgewichts sind. Er stellt etwa fest, dass er bei Menschen, die er als Autoritätspersonen betrachtet (Vorgesetzte), viel selbstbeherrschter reagiert als zum Beispiel im Kreise der Familie (Partner). Er beobachtet, dass seine Ungeduld einem Mangel an Toleranz oder auch fehlender Menschenkenntnis entspricht. Und wenn er sich das nächste Mal aufregt, weil jemand beim Abbiegen nicht geblinkt hat, dämpft er seinen Groll, indem er zu sich sagt: ‚Ist dir das etwa noch nie passiert?‘ Auch zu hohe Erwartungen in Bezug auf das, was man verdient zu haben meint oder wie man von anderen behandelt werden möchte, können Auslöser von aggressiven Emotionen sein.

Diese kleine beispielhafte Aufzählung macht klar, dass die Arbeit an nur einem einzigen Punkt unserer Persönlichkeit äußerst vielschichtig ist, viel Zeit in Anspruch nimmt und uns (und manchmal auch unseren Mitmenschen) viel Geduld abfordert. Wer erwartet, dass er nach vier Wochen bereits ein durchschlagendes Ergebnis sieht, der wird schnell frustriert sein. Im Falle dieser Arbeit am Selbst heißt es eher, ‚kleine Brötchen backen‘… und sich auch für kleine Erfolgserlebnisse  anerkennen, denn dies motiviert und gibt Energie zum Durchhalten. Und üblicherweise bekommt man diese Anerkennung ab einem gewissen Punkt auch von anderen – etwa, wenn der Ehepartner sagt: ‚Nanu, Du bist ja vorhin unserer Tochter gegenüber ganz ruhiggeblieben, früher hättest Du Dich darüber hundertprozentig aufgeregt!‘ Ein glücklicher Moment…

Autor: Das Redaktionsteam


[1] Kohlberg war Professor für Psychologie und lehrte an der Harvard University School of Education das Fach Erziehungswissenschaften. Sein Werk zur vorgestellten Stufentheorie: Die Psychologie der Moralentwicklung (1996)

[2] Bahram Elahi ist Doktor und emeritierter Professor der Medizin und verwaltet das geistige Erbe seines Vaters Ostad Elahi, der ein über seine Heimat Iran hinaus bekannte iranischer Philosoph und Mystiker ist; siehe im Näheren http://de.wikipedia.org/wiki/Ostad_Elahi

[3] Elahi, Bahram: The Path of Perfection (2005)

[4] Zur Erklärung: Das Herrschsüchtige Selbst „bezieht sich auf die Manifestationen der schädlichen Triebkräfte des Es (…), die sowohl aus göttlicher als auch moralischer Sicht illegitim und schadhaft sind.“ (Path of Perfection, Seite 242)

[5] Prof. Dr. Johannes Huber im Gespräch mit Iska Schreglmann, BR Alpha Forum, Sendung vom 18.5.2011

[6] Elahi, Bahram: Medicine of the Soul. Foundations of Natural Spirituality (2001)

 

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